Einstein in Caputh: Auf die Welt pfeifen
Im Jahre 1931 schickte Einstein seinem Sohn Eduard eine Einladung nach Caputh in der Form eines Vierzeilers:
Sei ein gutes faules Tier,
Streck alle Viere weit von Dir.
Komm nach Caputh, pfeif auf die Welt,
Und auf Papa, wenn Dirs gefällt.
Mag so mancher in Caputh dieses Lob der Faulheit gesungen haben, Einstein nahm es sicherlich nicht ernst. Der Einzelgänger, der aufs Land geflüchtet war, hörte nie auf, sich mit gesellschaftlichen und politische Fragen zu beschäftigen. Wenn überhaupt, so intensivierte sich seine Auseinandersetzung mit diesen Fragen eher noch. Während Einstein seine pazifistischen Überzeugungen bereits 1914 demonstriert hatte – als einer von nur vier Berliner Intellektuellen unterzeichnete er einen Appell, der Deutschlands Rolle im Ersten Weltkrieg kritisierte -, so sprach er sich während seiner Caputher Jahre noch stärker gegen den Krieg aus und rief die Bürger auf, den Militärdienst sogar in Friedenszeiten zu verweigern. Wann immer ein junger Kriegsdienstverweigerer vor Gericht erscheinen musste, erhob Einstein seine Stimme und schrieb an Minister und Militärgerichte. Als es im Spätsommer 1929 in Jerusalem vermehrt zu Angriffen von Arabern auf Juden kam, verurteilte Einstein die Vorfälle, plädierte aber auch für eine friedliche Lösung und protestierte gegen die Todesurteile, die die englischen Behörden verhängt hatten. – Ohne friedliche Zusammenarbeit,“ so schrieb er an Chaim Weizmann, den Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation und späteren ersten Präsidenten des Staates Israel, hätten „wir absolut nichts aus unseren 2000 Jahren des Leidens gelernt.“
Von Caputh aus korrespondierte Einstein mit bedeutenden Politikern und Denkern in aller Welt, darunter Mahatma Gandhi, den er in seinem gewaltlosen Widerstand unterstützte, und Sigmund Freud, mit dem er seinen berühmten Dialog über den Frieden von hier aus führte. Für Einstein hing der Frieden von der Ausweitung internationaler Zusammenarbeit ab, vom „bedingungslosen Verzicht der Staaten auf einen Teil ihrer Handlungsfreiheit beziehungsweise Souveränität.“ Im Sommer 1930 hielt Einstein eine Rede, der Millionen von Radiohörern lauschten und in der er seine Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass die Fähigkeiten des neuen Mediums, politische Grenzen zu überwinden, eines Tages Nationen miteinander versöhnen könnte.
Als die Nazis im September desselben Jahres Deutschlands zweitstärkste politische Partei wurden, indem sie sich 107 Sitze im Reichstag sicherten, erklärte Einstein ihren Sieg zu einer „Kinderkrankheit der Republik“. Als sich die Lage in den nächsten zwei Jahre jedoch deutlich verschlechterte, erkannte er, dass diese Krankheit so schnell nicht zu kurieren sein würde. Einstein schloss sich daraufhin der politischen Linken an, auch wenn er seine Bedenken gegen den Kommunismus hatte. Er unterzeichnete Aufrufe der Roten Arbeiterhilfe und hielt auf Bitten der Schriftstellerin Anna Seghers einen Vortrag an der Marxistischen Arbeiterschule: „Was der Arbeiter von der Relativitätstheorie wissen muß“. 1932 besuchten ihn Heinrich Mann und Käthe Kollwitz in Caputh und baten ihn, ein Manifest mit zu unterzeichnen, das Gewerkschaftsführer, Sozialdemokraten und Kommunisten zum gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus aufrief. Mann und Kollwitz wussten, dass es keine andere öffentliche Persönlichkeit der Weimarer Republik gab, deren Name ihrer Sache größeres Gewicht verleihen konnte.
Einsteins politisches Engagement beschränkte sich aber nicht auf seinen Kampf gegen Militarismus und Faschismus. Allein im Sommer 1931 setzte er sich in vier Fällen öffentlich für die Gerechtigkeit ein: Er verbündete sich mit einer internationalen Gruppe zur Unterstützung von acht schwarzen Jugendlichen aus Alabama, die zum Tode verurteilt worden waren, weil sie angeblich zwei Frauen vergewaltigt haben sollten, obwohl Zeugenaussagen diesen Vorwurf widerlegten; er appellierte beim Gouverneur von Kalifornien für die Freilassung von Tom Mooney, einem Arbeiteraktivisten, der wegen eines Meineids zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war; er protestierte gegen die Versuche rechtsgerichteter Studenten, in Berlin einen pazifistischen Professor absetzen zu lassen; und er schrieb zusammen mit Heinrich Mann einen Brief an die New York Times, in dem er den serbischen König Alexander I. beschuldigte, die Ermordung eines prominenten kroatischen Intellektuellen mitorganisiert zu haben.
Neben der Vita activa führte Einstein aber auch noch seine Vita contemplativa fort. Zum einen war da die Physik. Hier sind neben acht theoretischen Schriften (hauptsächlich Versuche, kausale Zusammenhänge im scheinbaren Durcheinander der Quantenphänomene zu finden), auch Festschriften über Johannes Kepler und James Clark Maxwell entstanden, hier traf er sich mit Freunden und Kollegen von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, von denen viele Nobelpreisträger der Physik oder Chemie waren oder später noch wurden. Zum anderen waren da die Künste und die Philosophie. Einsteins Interesse beschränkte sich nie allein auf die Physik, doch in Caputh wagte er sich auf noch entferntere Gebiete als zuvor. Der Maler Max Liebermann, der Kritiker Alfred Kerr, der Dirigent Erich Kleiber und der Schriftsteller Arnold Zweig – alle besuchten ihn in Caputh. Im Sommer 1930 empfing Einstein den Nobelpreisträger für Literatur Rabindranath Tagore, mit dem er über das Verhältnis von westlicher und östlicher Musik sprach. Und natürlich spielte er hier auch auf seiner Geige. In Caputh begann Einstein außerdem, sich zu Fragen der Religion und Philosophie zu äußern. Einer seiner Artikel für das New York Times Magazine beschäftigte sich mit unterschiedlichen religiösen Erfahrungen. 1932 bat ihn die Deutsche Liga für Menschenrechte, eine Schallplattenaufnahme von einem seiner Artikel zu machen: „Wie ich die Welt sehe.“ Das Essay ist zwar nur zwei Seiten lang, doch keine seiner Schriften gibt besser Auskunft über das breite Spektrum seiner philosophischen und politischen Ansichten – von seinem Glauben an den Determinismus bis zu seinem Einsatz für den Einzelnen, von seiner Sympathie für die Sozialdemokratie auf der weltlichen Ebene bis zum Pantheismus auf der spirituellen. Ein Abschnitt verdeutlicht besonders gut, wie sehr das Leben in Caputh Einsteins Weltanschauung entsprach:
Mein leidenschaftlicher Sinn für soziale Gerechtigkeit stand stets in einem eigentümlichen Gegensatz zu einem ausgesprochenen Mangel an unmittelbarem Anschlußbedürfnis an Menschen und an menschliche Gemeinschaften. Ich bin ein richtiger „Einspänner“, der dem Staat, der Heimat, dem Freundeskreis, ja selbst der engeren Familie nie mit ganzem Herzen angehört hat, sondern all diesen Bindungen gegenüber ein nie sich legendes Gefühl der Fremdheit und des Bedürfnisses nach Einsamkeit empfunden hat …